Heute ist der 20. Juni 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Diesmal: Eine optimistische Ausgabe.
Liebe Leserinnen und Leser! Warum ist dieser Lokshin immer so negativ? Warum erzählt er keine herzerwärmenden Geschichten aus Russland? Warum immer diese Korruption, diese Willkür, dieses Chaos? Geben Sie’s zu, das geht Ihnen manchmal durch den Kopf. Wahrscheinlich sogar oft.
Nun, leider ist Russland seit ein Paar Jährchen kein besonders heiterer Ort mehr. Dennoch, diesmal eine Geschichte, die mir Hoffnung gibt, für Russland und seine Menschen.
Stellen Sie sich vor: Eine Großstadt irgendwo in Sibirien. Ein Mann betritt die örtliche FSB-Zentrale und sagt: Es geht um einen Mord. Der Beamte wird hellhörig. Dann präsentiert der Besucher Unterlagen über die Erschießung seines Urgroßvaters während des „Großen Terrors“ im Jahr 1938. Er will wissen, wer den Mord verübt hat, und wo er die Leiche seines Großvaters findet.
Das ist doch ein schlechter Scherz. Beim FSB vorstellig werden, die Herausgabe der Leiche fordern. Ein schlechter Scherz, oder ein Plot für eine, ähm, Dramödie? Nein, die Geschichte ist echt. Der Urgroßvater, das ist Stepan Karagodin, ein Landwirt aus der sibirischen Region Tomsk, der während des russischen Bürgerkriegs die Weißen unterstützte und die Bolschewiken bekämpfte. In den 1920er Jahren zweimal verhaftet, kam er mit dem Leben davon. Im Dezember 1937, auf dem Höhepunkt der stalinistischen Massenrepression, fabrizierte der NKWD ein neues Strafverfahren gegen ihn.
Sechs Wochen später wurde der 57-jährige Stepan als „japanischer Spion“ erschossen. 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod, „rehabilitierte“ ihn die Sowjetjustiz posthum. Für die meisten Angehörigen der Opfer, vor allem für die Nachgeborenen – sofern es sie überhaupt beschäftigt – ist es mit der „Rehabilitierung“ getan.
Nicht für Stepans Urenkel Denis Karagodin. Seit Jahren rekonstruiert er das Martyrium seines Urgroßvaters. Er treibt den FSB als Nachfolgeorganisation des sowjetischen Repressionsapparates vor sich her, fordert Akten an, recherchiert in Bibliotheken. Obwohl der FSB dazu schweigt und die Nachforschungen behindert, findet Denis auf Umwegen heraus, welche Funktionäre die Ermordung seines Urgroßvaters angeordnet haben. Während seiner Recherche stößt er auf grauenhafte Details, wie er im Interview mit „Radio Svoboda“ beschreibt:
„Die Realität war viel schrecklicher, als es die Dokumente nahe legen. Zum Beispiel: Der NKWD-Zweig in Nowokusnezk fordert die Kollegen in Tomsk zum sozialistischen Wettbewerb heraus: Wer wird mehr Staatsfeinde verfolgen und erschießen? Tomsk gewinnt. Oder nehmen wir Nowosibirsk. Dort gab es ein Spiel unter NKWD-Mitarbeitern. Wer einen Häftling mit einem Tritt in die Leiste umbringt, hat gewonnen. Ich kann kaum darüber sprechen. Es ist unerträglich, sowas zu lesen. Ich hätte viel gegeben, um nie von diesen Dingen zu erfahren.“
Denis findet Hinweise auf das Massengrab in einer Schlucht, wo der NWKD seine Opfer verscharren ließ – heute eine Müllhalde. Er findet den Ort, wo einmal das Haus seines Urgroßvaters stand. Das Haus wurde in den 1970ern abgerissen.
„Ich gelangte an diesen Ort, und sah genau das, was Stepan Iwanowitsch vor etwas mehr als hundert Jahren sah, als er dort ankam, um sein Haus zu bauen. Ich, genau wie er, sah einen leeren Ort. Ich war etwa so alt wie er damals. Dann dachte ich mir: Hat es dieses Jahrhundert überhaupt gegeben? Wo ist all das geblieben, was zu diesem Jahrhundert gehörte? Warum sehe ich dasselbe wie er damals? Das schien mir wie eine Zeitschleife, wie ein Hohn. Und gleichzeitig wie eine Bilanz der Sowjetherrschaft. So viele Dinge sind hier passiert, und dennoch: wieder ein leerer Ort. Das war fast eine religiöse Erfahrung. In diesem Moment verstand ich: Ich bin kein Beobachter mehr, ich bin ein Handelnder.“
Teilten ein paar Russen mehr Stepans Gedankengänge, wäre Russland ein anderes Land.
Danke für die Aufmerksamkeit!
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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin
RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.