RLW #59: Konsum statt Propaganda

Heute ist der 4. Juli 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema diesmal: Warum die Russen trotz pseudopatriotischer Dauerberieselung Pragmatiker bleiben.


Liebe Leserinnen und Leser, viele Kreml-Publizisten und sonstige besoldete Patrioten erlebten jüngst ihr ägäisblaues Wunder: Moskau und Ankara sind wieder Freunde. Erdogan hat sich für den Abschuss des russischen Kampfflugzeugs im November letzten Jahres entschuldigt, Putin ließ das Verbot von Türkeitouren aus Russland aufheben, trotz der Sicherheitslage nach dem Anschlag in Istanbul.

Nach sieben Monaten Sperre dürfen die Russen wieder Ferienreisen in ihr Lieblings-Urlaubsland buchen.

Und hey! Die Nachfrage ist riesig. Die ersten russischen Urlauber haben bereits ihre Türkei-Reisen gebucht, Türkei ist wieder der Renner bei den Suchanfragen beim Urlaubs-Vergleichsportal Yandex-Puteshestviya, das Interesse an Sotschi und der Krim ist schlagartig zurückgegangen.

Kein Wunder, denn vor dem Türkei-Boykott konnten die inländischen Urlaubsorte kaum mit den türkischen Mitbewerbern konkurrieren: zu teuer, zu schlechte Infrastruktur, kaum gute Hotels.

Die „professionellen Russen“ der Kreml-Publizistik können sich Top-Hotels auf der besetzten Krim leisten, normale Russen eher nicht. Trotzdem: Wer jetzt in die Türkei fährt, macht Urlaub beim Feind, das ist der Konsens. Schon am Montag appellierte mein persönlicher Lieblingspatriot, der Schriftsteller, Musiker und „Neurussland“-Fan Sachar Prilepin, an die Selbstachtung des russischen Volkes:

„Wollt ihr jetzt allen Ernstes sagen: Na gut, alles super – und macht euch davon in die Türkei, wie eine Schwarm von Buchfinken? Dieses Geschöpf hat unsere Kampfpiloten umgebracht. Unsere Landsleute… Seid arrogant, ihr Russen! Es wird euch doch niemand respektieren. Erdogan presst drei Wörter hervor – und das war’s, los, auf den Strand. Pfui.“

Den Türkeireisenden wünscht Prilepin schmallippig „guten Urlaub“, während der kremltreue Journalist Pawel Danilin sich wundert:

„Was ich nich verstehe: Fast ein Jahr lang haben wir davon gesprochen, dass die Türkei den IS finanziert. Das ist die Wahrheit. Wir sagten, dass die Türken den Kämpfern aus dem Kaukasus Unterschlupf bieten, das ist auch die Wahrheit. Wir erzählten, wie Erdogan mit Öl handelt – es ist wahr. Und jetzt wollen wir wieder unsere Touristen in dieses Schlangennest schicken. Wo ist die Logik?“

Ja, wo denn? Jetzt kann man natürlich über die Gründe für den Entspannungskurs von Putin und Erdogan spekulieren. Viel interessanter scheint mir die pragmatische Einstellung der Russen.

Den Kreml-Eliten ist wohlbekannt: Mit patriotischem Moralismus kommt man in Russland nicht weit. Nicht umsonst hat der russische Staat nicht etwa zu einem Boykott von europäischen Lebensmitteln oder von Pauschalurlaub in der Türkei aufgerufen.

Damit die Russen etwas nicht tun, muss man es ihnen physisch verunmöglichen – dann verbrennt man eben Käse aus der EU, damit er die Supermärkte nicht erreicht, oder man verhängt ein Verbot von Türkeitouren. Wer sich westliches Auto-Fabrikat leisten kann, kauft sich eben keinen Lada, mag er der größte Patriot sein – das ist auch die Erklärung für all die „Georgsbändchen“ an Mercedes-SUVs.

Geschätzte 95 Prozent der Russen interessieren sich gar nicht für Politik, sind ergo für „Konsumenten-Patriotismus“ à la Prilepin einfach nicht ansprechbar, schreibt der Publizist Alexander Schmeljow:

Solange sie mit ihrem Lebensstandard mehr oder weniger zufrieden sind, unternehmen sie nichts gegen die Staatsmacht, verzichten aber auch nicht auf den Türkeiurlaub. Und in den Krieg ziehen sie auch nicht.

Wann betreten diese pragmatischen 95 Prozent das politische Spielfeld? Diese Frage macht nicht nur mir Angst. Sondern auch dem Kreml.


Danke für die Aufmerksamkeit!

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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.