RLW #50: Russische Kindheiten

Heute ist der 2. Mai 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema diesmal: Aufwachsen zwischen Patriotismus und Eigensinn. 


Liebe Leserinnen und Leser, wie Sie sicher wissen, ist patriotische Erziehung ein Problem für den Kreml. Die lieben Kleinen schauen amerikanische Actionfilme und spielen amerikanische Actionspiele. Wo bleibt da die russische Seele? Manche Duma-Abgeordnete wollen an Schulen den „Patriotismusunterricht“ einführen, und das Bildungsministerium findet das auch nicht schlecht. Patriotismus vermitteln, wie geht das wohl am Besten? Mit der Kraft des bewegten Bilds natürlich, frei nach Wladimir Iljitsch Lenin.

Ein Studio aus der schönen Wolga-Stadt Samara wartete nicht auf Anweisungen aus dem Ministerium und produzierte, ähm, in Eigenregie einen anderthalbminütigen Clip, in dem eine Gruppe von Primarschülern auf den Geist (!) eines zehnjährigen Soldaten trifft (!). Der zehnjährige Junge erzählt, wie er seine Brüder und seine Mutter an die Nazis verlor und irgendwann bei den Partisanen unterkam – dort „erwischte“ ihn bei einem Einsatz „ein feindlicher Scharfschütze.“ Dann kommt es zum folgenden Dialog:

EIN MÄDCHEN AUS DEM JAHR 2016: Hey, macht es einem Angst, das Sterben?
DER GEIST DES SOLDATENJUNGEN: Das ist unwichtig. Wichtig ist, dass wir gesiegt haben.

Patriotisch! Wer glaubt, das Video verhöhne das Leben und Sterben sowjetischer Kriegskinder, wer der Meinung ist, die Auseinandersetzung mit dem so genannten Heldentod für die Heimat sei nichts für Grundschüler… Na, der ist eben kein Patriot. Fertig.

Manche Kinder tun eben das, was man ihnen sagt. Sie spielen zum Beispiel in blödsinnigen Videos mit. Andere wiederum tun Dinge, die nicht möglich sein sollten, und dann steht das halbe Land Kopf. Vergangene Woche reiste ein Mädchen aus Moskau ohne Personalausweis und Ticket nach Sankt-Petersburg – per Flugzeug. Wie die 11-Jährige dabei vorging, ist nicht ganz klar. Offenbar gab sie bei den Sicherheitskontrollen glaubwürdig vor, zu einer Großfamilie in der Schlange zu gehören. Der Besatzung des „Rossija“-Flugs fiel erst nach dem Start auf, dass sich ein so genanntes unbegleitetes Kind an Bord befindet – ohne, dass es das Bodenpersonal vorher meldete.

Nach der Landung in Sankt-Petersburg war der Skandal perfekt: Die Mutter des Mädchens weigerte sich, es abzuholen und forderte Schadensersatz von der Fluggesellschaft. Der Ombudsmann für Kinderrechte Pawel Astachow schaltete sich ein – der Mann verpasst nie eine Gelegenheit, im Fernsehen aufzutauchen – und kündigte an, das Mädchen höchstselbst nach Moskau zu bringen (denkt an die Bilder!) Die Mutter kam dann doch nach Petersburg und holte das Kind ab. Jetzt wird geklärt, wer für den Zwischenfall verantwortlich war: die Fluggesellschaft? Die Sicherheitsfirma am Flughafen? Die Feinde Russlands? Es bleibt spannend.

Eine gute Nachricht: Die dritte Saison des russischen Pendants zu „The Voice Kids“ hat der 13-jährige Danil Pluschnikow aus Sotschi gewonnen. So what? Pluschnikow hat Achondroplasie und ist kleinwüchsig. Ein Mensch mit Behinderung als Sieger im Fernsehen? Das ist groß, gerade in einem Land, wo Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Raum und den Medien kaum präsent sind.


Danke für die Aufmerksamkeit!

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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.