RLW #2: Putins 86 Prozent / Kadyrow, der Hofnarr / Mel Brooks macht Nazi-Propaganda

Heute ist der 31. Mai 2015, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Die Themen:

  • Putins 86 Prozent – Kadyrow, der Hofnarr – Russland zäunt sich ein
  • Mel Brooks macht Nazi-Propaganda in Samara – Regierungszeitung: USA wollen FIFA bomben
  • Video der Woche: Ein sympathischer Minister kann leider kein Englisch.


Was hat es mit Wladimir Putins Beliebtheitsrating von 86 Prozent auf sich? Die Zahl wird weltweit rauf und runter zitiert und gern als ein Beleg für die fanatische Hingabe der Russen an Putin angeführt. Der liberale Politologe Alexander Kynew meint, die 86 Prozent seien nicht repräsentativ. Mehr als die Hälfte der Russen weigere sich einfach, bei Umfragen mitzumachen, behauptet Kynew.

“Menschen, die nicht mit dem Regime einverstanden sind, weigern sich einfach, Fragen zu Putin zu beantworten. Alle anderen wollen ihre Risiken minimieren. Sie geben richtige, normative, erwartete Antworten … Angst und Konformismus geben Putin zusätzliche 20 Prozent.”

Die Soziologin Karina Pipija vom Lewada-Zentrum widerspricht Kynew. Nur sehr wenige Russen wollten nicht mit Soziologen sprechen. Außerdem: Bei Lewada frage man seit Jahren nach Putins Fehlern und Mängeln, aktuell kritisierten 80 Prozent der Befragten Putin, ohne Angst zu haben.

Was lernen wir daraus? Vorsicht mit den 86 Prozent.


Und wo wir schon bei den Politologen sind. Was ist eigentlich ein russischer “Politologe”? In einem lesenswerten Interview bei colta.ru spricht Jekaterina Schulman, Wedomosti-Kolumnistin und ausnahmsweise echte Politikwissenschaftlerin, über ihre Branchenkollegen:

“Bei uns ist der Begriff ”Politologe“ ein wenig entwertet: Das ist ein bequemes Wort für jeden, der aktuelles Geschehen kommentiert. Diese Leute sind oft der medialen Agenda ausgeliefert und reden über Dinge, die heute passiert sind. Für politische Prozesse können sie einfach irrelevant sein.”

Ein echter Politologe brauche keine Quellen in den höchsten Machträngen und kein starkes Interesse für aktuelles Nachrichtengeschehen. Was?! Belkowskij ist kein Politologe? Hätte ich’s eher gewusst. Naja.

Nebenbei, über die vaterländische Umfrageindustrie hat Schulman auch wenig Schmeichelhaftes zu sagen. Mit einer direkten Frage rausfinden zu wollen, wie jemand über einen in schwammigen Begriffen umrissenen Problemzusammenhang denkt, sei nichts anderes als “positivistische Naivität”. Obendrein in einer unfreien Gesellschaft wie Russland, wo “richtige” Antworten auf Fragen von Meinungsforschern als Loyalitätsbeweis gelten – Meinungsumfragen sind eben kein geeignetes Instrument, um öffentliche Einstellungen zu messen.

Trotz der angeblichen medial aufgepeitschten nationalen Begeisterung gab in Russland keinen landesweiten Anstieg der Gewalt und keine massenhafte Freiwilligen-Mobilisierung für den Krieg im Donbass, meint Schulman. Also doch keine Massenhysterie. Die geistert dafür durch westliche Medien.

Qualitativ arbeitende politische Soziologie ist in Russland übrigens absolute Nischendisziplin. Was denkt also der gemeine Russe? Das wissen wir nicht. Aber schön brav die 86 Prozent zitieren, liebe Kollegen, empör, empör.


Ramsan Kadyrow: Autokrat, Gewaltherrscher, oder sogar Putins Nachfolger, so sprechen wir üblicherweise über das tschetschenische Republikoberhaupt. Könnte Kadyrow nur ein Hofnarr sein, eine Gestalt vom Schlage eines Wladimir Schirinowski? Gut, des späten Schirinowski. Vor zwanzig Jahren hatten wir so viel Angst vor ihm! Der “Ultranationalist” Schirinowski, der als Sohn eines jüdischen Vaters problemlos nach Israel einwandern könnte, hat’s 1994 sogar aufs SPIEGEL-Cover geschafft, zusammen mit Adolf Hitler. Aber has-been, has-been.

Kadyrow ist sozusagen der neue Schirinowski. Diese These stellt Ewgeni Babuschkin von Snob.ru auf. Die russischen Zuschauer seien müde geworden von den alten Fernsehgesichtern, es musste jemand Neues her. Der petersburger Schwulenhasser Witali Milonow war eben nicht genug. Und Kadyrow: Das Fernsehen vernachlässigte ihn nicht gerade. In letzter Zeit ist er aber zur Lieblingsfigur der Kreml-PR-Maschinerie avanciert. Auftritt Kadyrow, so wie Babuschkin ihn sieht:

“Trommelwirbel, eine neue Figur in der Arena. Er reitet auf einem Rassegaul, er fährt mit einem Jeep, er tanzt die Lezginka, er schießt aus seiner goldenen Pistole in die Luft. Er ist ein Bonvivant und Kommisshengst zugleich, er ist drollig, aber nicht armselig. Er macht einem sogar etwas Angst.”

Nicht langweilig, nicht offiziell, kein Anzugträger, dieser Kadyrow, sagt Babuschkin. Für ihn müssen wir doch dankbar sein, denn wir werden unterhalten. Die im Kreml denken auch mal an uns.

Kadyrow, der neue Schirinowski, schön wär’s, aber in Tschetschenien verschwinden einfach zu viele Menschen. Unterhaltsam finde ich das eher nicht. Ein bisschen Background zu Kadyrows Regime in Tschetschenien gibt es in dieser Kurzdoku (englische Untertitel!), produziert von der Chodorkowski-Stiftung “Open Russia.”


In der schönen Wolga-Stadt Samara empören sie sich über eine geplante Inszenierung des Mel-Brooks-Musicals “The Producers”. Ihr wisst schon, das mit “Springtime for Hitler” und so weiter. Kommt nicht gut an bei der patriotischen Öffentlichkeit, oder deren Simulation, so genau weiß das in Russland ja niemand.

Die Broadway-Satire von Mel Brooks verherrliche Homosexualität und Faschismus, meinen Abgeordnete der regionalen Duma. Wie das traditionsreiche Stadttheater mit Steuergeldern wirtschaftet, soll nun “überprüft” werden. Und eine “Überprüfung” verheißt in Russland naturgemäß nichts Gutes. Die Kulturministerin der Region Samara ist vorsichtshalber schon mal zurückgetreten.

Ach ja, die “Nowaja Gaseta” behauptet, die Sowjetunion habe den gleichnamigen Brooks-Film 1968 eingekauft, der Streifen sei in sowjetischen Kinos ein großer Erfolg gewesen. Ich konnte dafür auf die Schnelle keine Belege finden. Mel Brooks in Sowjetkinos unter Breschnew? Klingt einigermaßen unglaublich, aber ich bin kein Experte für sowjetische Kulturpolitik.


Nicht nur die Ukrainer wollen ihre Grenze mit Russland besser befestigen, Stichwort 200-Millionen-Dollar-Mauer. Russland selbst will seine Grenzanlagen ausbauen, und zwar an der Grenze zum Donbass. Neuerdings gibt es zwischen den “Volksrepubliken” und der russischen Region Rostow einen 100 Kilometer langen Graben und bislang 40 Kilometer zusätzliche Befestigungen.

Die russisch-ukrainische Grenze wird auf einer Länge von 300 Kilometern von den “Volksrepubliken” kontrolliert. Nun klagen die Russen über Waffenschmuggel, wohlgemerkt von der ukrainischen Seite! Die Grenzer aus Rostow rapportieren seit Jahresbeginn 60 Fälle.

Russische Militärtransporte in den Donbass haben sie natürlich nicht gesehen, wo kämen wir denn hin.


Ich weiß nicht, was für Experten die russische Regierungszeitung “Rossijskaja Gaseta” beschäftigt. Sie fallen jedenfalls regelmäßig auf fake news ein. Jüngster Fall: Diese Satire von Andy Borowitz im New Yorker, die RG für bare Münze nahm. John McCain habe die Regierung der USA dazu aufgerufen, die FIFA zu bombardieren. Daraufhin regte sich der RG-Autor darüber auf, die amerikanischen Politiker hätten endgültig “das Gefühl für Realität” verloren. Das gilt wohl eher für die RG-Redaktion – und der Text ist übrigens immer noch online.


Das Video der Woche: zweifellos der charmante Auftritt des russischen Sportministers Witali Mutko in Zürich. “The World Cup is Russian, no problem! There is no criminality!” 2010 hat er versprochen, Englisch zu lernen, allerdings erst bis 2020. Der Mann hat also noch Zeit.


Danke für die Aufmerksamkeit!

Ich bitte um Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.

Bis nächste Woche!

Pavel Lokshin