RLW #61: Beten gegen die Krise?

Heute ist der 18. Juli 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema diesmal: Wie Russland ins magische Denken zurückfällt. Oder doch nicht? 


Liebe Leserinnen und Leser, unser Bild von Russland ist noch immer stark vom Selbstverständnis der Sowjetunion geprägt, das sie in die Welt hinausposaunte: Russland, das Land mit den Top-Wissenschaftlern, Russland, das Land der Atheisten, wo bis heute nur ein paar Prozent der Bevölkerung regelmäßig Gottesdienste besuchen. Ja, wir reden zwar gern von der Rechristianisierung Russlands, wir produzieren (und konsumieren) bunte Reportagen mit ganz viel Weihrauch und bärtigen Popen vor der Ikonostase, wir zeigen langbeinige Russinnen™ mit Kopftuch.

Aber Hand aufs Herz, wir wissen – im Alltag der Menschen in Russland spielt Religion kaum eine Rolle. Jedenfalls nicht Religion im westlichen Sinne.

Was dann? Der Aberglaube, ein „Amalgam unterschiedlichster Vorstellungen mit Attributen des orthodoxen Christentums“, wie es der Soziologe Lew Gudkow vom Lewada-Zentrum auf den Punkt bringt.

In Umfragen nennen sich 77 Prozent „christlich-orthodox“, an Gott glauben 40 Prozent, die Bibel haben nur 39 Prozent der Befragten gelesen – dafür glauben unfassbare 59 Prozent der Russen an „Sglas“, den bösen Blick. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion Jahren taten es nur 38 Prozent.

Viele Forscher stellen angesichts dieser Entwicklungen eine so genannte Archaisierung der russischen Gedankenwelt fest. Demnach schlage in Russland magisches Denken Wurzeln, das Verständnis für die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung gehe zunehmend verloren. Zwei Drittel der russischen Frauen suchen laut einer Umfrage des Soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften im Alltag Hilfe bei Magiern und Wahrsagerinnen. Immerhin knapp die Hälfte der Russen glaube an Magie und Hellseherei.

Und die Kirche? Sie mag solchen „Aberglauben“ äußerlich verurteilen, betreibt aber selbst nichts anderes: Landesweit gab es in den letzten Jahren dutzende Gottesdienste zum Schutz gegen die Krise oder gegen niedrige Ölpreise. In Russland wundert das niemanden mehr.

Das hat auch ökonomische Folgen: Wenn das wissenschaftliche Weltbild kollabiert, wenn sich also ein großer Teil der Bevölkerung ins magische Denken verabschiedet und nicht länger in der Lage ist, mit Kausalitäten zu arbeiten – so die Argumentation – fehle dem Land hochqualifiziertes Humankapital für Wirtschaftswachstum.

Der Zusammenhang zwischen dem Glauben an Horoskope und der Innovationskraft einer Volkswirtschaft mag gegeben sein – doch wie will man so etwas messen? Dass die Qualität der Schul- und Hochschulbildung in Russland vor allem in der Provinz beängstigend niedrig ist, steht außer Frage. Das hat aber weniger mit magischem Denken zu tun als mit Unterfinanzierung.

Der russische Staat ist an einer gut ausgebildeten Bevölkerung offenbar nicht interessiert – es ist im Gegenteil das erklärte Ziel der Regierung, die Akademikerquote, die in Russland momentan über 50 Prozent liegt – übrigens OECD-weit Spitze – auf 35 Prozent zu senken. Der Wirtschaft, die in den offiziellen Statistiken auftaucht und im großen Stil exportiert, wird diese Entwicklung wohl kaum nicht guttun. Die „Garagenökonomie“, das russische Schatten-Kleinunternehmertum, braucht allerdings keine Uni-Absolventen, sondern Männer ohne Alkoholprobleme, die mit Händen arbeiten. Eine Aufgabe für Headhunter!

Im Zwielicht des Halblegalen entdecken die angeblich so irrationalen und archaischen Russen plötzlich ihr unternehmerisches Geschick und begeistern sich für Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, sofern sie Geld verheißen. Wie passt das zusammen? Wir wissen es nicht. Aber wer von der „Archaisierung“ Russlands spricht, hat natürlich eine Antwort parat: Die „Garagenökonomie“ ist ein Symptom des Rückfalls in vormoderne Wirtschaftsformen. Alles andere ist, nun, Aberglaube.


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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.