RLW #45: Russlands stille Verarmung

Heute ist der 28. März 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das österliche Thema diesmal: Was der Niedergang der Wirtschaft für die Menschen in Russland bedeutet.


Liebe Leserinnen und Leser, wir haben es geahnt: Die Russen verarmen so schnell wie noch nie – nun belegen dies auch die Daten der russischen Statistikbehörde Rosstat. Demnach rutschten im vergangenen Jahr drei Millionen Menschen unter die Armutsgrenze, die in Russland ohnehin nicht besonders großzügig bemessen ist. Als arm gilt, wer monatlich weniger als umgerechnet 123 Euro für Lebensmittel, Steuern und Wohnnebenkosten ausgeben kann – im Moment gilt das für 19,2 Millionen Bewohner Russlands, also etwa 13,4 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes.

Die Ursache: Inflation, Lohnkürzungen, ausbleibende Rentenerhöhungen, kombiniert mit steigenden Lebensmittelpreisen – eine Folge der langjährigen Stagnation der russischen Wirtschaft, die sich nach dem Abfall der Ölpreise und angesichts ausbleibender Strukturreformen in die Krise verabschiedete. Bis sich die Einkommen vieler Russen erholen, wird es wohl noch Jahre dauern.

Also, was haben wir denn da, Millionen unzufriedene Russen, die zusehen, wie ihr bescheidener Lebensstandard auf das Niveau der „wilden 1990er“ absackt. Die Zeit der Umverteilung der Öl-Rente, die über sozialpolitische Umwege selbst die Ärmsten der Armen erreichte, ist nun endgültig vorbei.

Wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine neue Protestbewegung, oder gar einen Machtwechsel in Moskau? Mit anderen Worten, die Lieblingsfrage aller Russlandbeobachter im Westen: Warum Begehren Die Russen Nicht Auf? Hier teilen sich die Meinungen der russischen Experten. Einige sagen einen Run auf Gemüsegärten statt auf politische Protestplakate voraus – die Datschen-Subsistenzwirtschaft werde den Russen keine Zeit für „Protestaktivität“ lassen.

Andere meinen, dass nur kremlnahe Eliten einen politischen Wechsel herbeiführen könnten. Nun, wie die Politologen Maria Snegowaja und Grigori Frolow schreiben, könnten soziale Proteste allmählich politische Forderungen entwickeln, die von den Eliten aufgegriffen werden – wie in den neopatrimonialen, auf Klientelismus basierenden Regimen Afrikas, deren Niedergang oft mit Sozialprotesten ohne politische Forderungen begann.

Der russische Staat ist, ähnlich wie die afrikanischen Regime der 1980er Jahre, nicht mehr in der Lage, die Zufriedenheit seiner Bürger zu kaufen, weshalb ihm jede Art von Protest gefährlich werden kann. Im vergangenen Jahr gab es 40 Prozent mehr Sozial- und Arbeiterproteste als im Jahr 2014. Die Streiks der Ärzte und LKW-Fahrer waren nur die bekanntesten, in Russland medial beleuchteten Fälle. Europäische Medien haben sich kaum dafür interessiert. Aber gut, über Streiks irgendwo in der Provinz berichten selbst unabhängige russische Medien recht selten, doch es gibt sie, die Streiks (und auch die Medien – noch).

Der Kreml wird also zurecht nervös und lässt ein paar repressive Gesetze beschließen, die etwa dem Inlandsgeheimdienst FSB das Recht geben, im Fall des „bewaffneten Widerstands“ auf Frauen und Kinder zu schießen. Doch über den Fortbestand Russlands entscheiden am Ende keine ballernden Geheimdienstler, sondern eine funktionierende Wirtschaft, die nicht von Rohstoffexporten lebt.

Darunter scheint der Kreml bislang eine Politik der Autarkie und „Importsubstitution“ zu verstehen, ein wirtschaftstheoretisch zweifelhaftes Unterfangen, ausgerichtet auf den Binnenmarkt. Russland braucht aber Devisen. Und woher nimmt man sie? Man müsse Branchen entwickeln, die Waren für den Export herstellen. Zum Beispiel die Landwirtschaft, die Informationstechnologie, die Rüstungsbranche, schreibt der Jurist und Policy-Experte Sergej Tsipljajew.

Wahre Importsubstitution sei

die Entwicklung der Exportbranchen, und nicht die Schließung des Binnenmarkts, die technologische Rückständigkeit konserviert.

Werden wir in Russland in den nächsten Jahren neue Wirtschaftspolitik zu sehen bekommen? Nicht solange man auf dem „Moskauer Wirtschaftsforum“ an der größten Universität der Hauptstadt allen Ernstes russische „Innerlichkeit“ und „Geistigkeit“ zum Wettbewerbsvorteil der vaterländischen Wirtschaft erklärt und von einer „russisch-orthodoxen Wirtschaft“ träumt. Unter den geladenen Wirtschaftsexperten war ausgerechnet Igor Girkin, der ehemalige „Verteidigungsminister“ der selbsterklärten „Donezker Volksrepublik“. Noch Fragen?


Danke für die Aufmerksamkeit!

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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.