RLW #40: Russen und andere Europäer

Heute ist der 22. Februar 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema diesmal: „Russische Seele“ und Russlands Werte.


Liebe Leserinnen und Leser! Wollen wir bei RLW mal wieder ein bisschen intellektuell sein? Aber bloß nicht übertreiben, keine Literaturwissenschaft oder Philosophie, und keine Russlands-Zukunft-Essays. Einigen wir uns also auf Soziologie. Genauer gesagt, auf dieses lehrreiche Interview mit der St. Petersburger Soziologin Ella Panejach – ein gutes Antidot gegen all die Geschichten, die sowohl die Wächter des Regimes als auch seine Gegner gern verbreiten.

Russland also! Seine Menschen! Ganz besonders, anders als andere Völker, anti-individualistisch, möglicherweise demokratieuntauglich, ganz sicher rückwärtsgewandt und mit der Mentalität übrig gebliebener Sowjetmenschen ausgestattet.

Na ja, alles nicht so einfach, sagt Panejach. Die Russen unterscheiden sich in vielen Lebensfragen kaum vom Durchschnittseuropäer. Werte-Surveys bescheinigen ihnen zum Beispiel weder eine innige Liebe zum Kollektivismus noch besondere Religiosität.

„Russische Werte sind nicht traditionell, sie sind im Gegenteil sehr weltlich – wir haben ein nicht-religiöses Land. Das mag seltsam klingen für solche, die sich in orthodoxen Kreisen bewegen. Befragt man aber die Menschen, wird es deutlich: In Russland gibt es eine säkulare Gesellschaft – nach dem Sowjetatheismus nicht gerade erstaunlich. Darüber hinaus ist unsere Gesellschaft sehr individualistisch, zugleich aber mehr an Stabilität orientiert und weniger an Veränderungen und Fortschritt.“

Was heißt das konkret? Die meisten Russen finden zum Beispiel Abtreibungen völlig in Ordnung, da kann der orthodoxe Patriarch so lange dagegen zetern, wie er will. In Russland gibt es weit weniger fleißige Kirchgänger als viele westliche Beobachter glauben – nur etwa sieben Prozent der Russen besuchen regelmäßig Gottesdienste. Wie die anderen postkommunistischen Osteuropäer und Südeuropäer sind Russen – tschüß, „russische Seele“! – knallharte Materialisten, die den Erfolg nicht in Kilogramm Holzspielzeug pro Kind oder Fahrrädern pro Haushalt, sondern in Rubel messen. Oder in Euro, wenn sie Glück haben.

Trotzdem, sie sind gar nicht so schlimm, diese Russen, nur leider nicht so abenteuerlustig. Dafür, sagt Panejach, sind sie besser als ihr Staat. Der macht ihnen zu schaffen mit seiner gnadenlosen Bürokratie, mit der zunehmenden Repression, er macht aus ihnen chronische Schmiergeldzahler, die in Umfragen „Putin vertrauen“ und Angst vor der Polizei haben. Die seltsamen Russen, sie wollen Geld verdienen, aber ohne Innovation, also auch ohne Risiko. Das Geld hat aus der Erde zu sprießen.

Dieser ganze Fortschritt, das war nie das Ding der einfachen Russen. Vor hundert Jahren träumten die erst seit zwei Generationen befreiten Bauern von einer Agrarutopie. Freiheit, ja, aber Freiheit von dem Herren, von der Stadt, von der Moderne. Dann kam die Sowjetmacht und überrollte sie. Der Publizist Maxim Trudoljubow spricht von einer „Blitzkrieg-Urbanisierung“, die niemand wollte, von der Partei abgesehen. Was die Sowjets verschonten, löschte der Zweite Weltkrieg aus.

Vielleicht ist die Freude der heutigen Russen an den Gemüsebeeten auf der Datsche ein Widerhall dieser längst untergegangenen bäuerlichen Kultur – freilich ohne Dorfgemeinschaft. Oder Gemeinschaft überhaupt. Die Russen haben kein Vertrauen, sagt Panejach, weder zum Staat, noch zu den eigenen Mitbürgern. Selbst wenn diese ausgefallene liturgische Kopfbedeckungen tragen.

Kein Wunder also, wenn sogar Patriarch Kirill sich im Anschluss an sein geschichtsträchtiges Treffen mit dem Papst nach neuen Gläubigen umschauen muss – und zwar auf einer russischen Forschungsstation in der Antarktis. Man beachte das geniale Pinguin-Video und natürlich die Worte des Patriarchen:

„Was für ein Niveau der Solidarität! Keine feindselige Konkurrenz, keine Waffen, keine militärischen Aktivitäten, und keine Forschung, die darauf abzielt, Mitmenschen zu töten. Das ist doch ein Abbild der idealen Gesellschaft. Und als ich die Pinguine sah, die sich einem nähern, erinnerte ich mich daran – im Paradies gab es auch keine Konflikte zwischen Mensch und Tier.“

Vielleicht wären antarktische Pinguine die besseren Russen – dann läge Russland allerdings nicht in Europa.


Danke für die Aufmerksamkeit!

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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.