RLW #16: Moskau feiert sich selbst. Sonderausgabe zum Tag der Stadt.

Heute ist der 6. September 2015 und das ist Russland letzte Woche mit einer Sonderausgabe zum Tag Moskaus. Auch die großkotzigste Stadt braucht schließlich ein Stadtfest.


Ja, sind diese Moskowiter endgültig verrückt geworden? Braucht diese Hauptstadt der Selbstüberschätzung auch noch einen eigenen Feiertag, um sich auf die Schulter zu klopfen? Das erste Septemberwochenende, dieses Jahr regnet es in Strömen. Ein auf zwei Tage langgezogenes Stadtfest für eine halbe Milliarde Rubel, also sechs Millionen Euro? Doppelt so teuer wie letztes Jahr? Und das in Krisenzeiten? Der DEUTSCHE KULTURPROTESTANT in mir tobt. Wofür geht das ganze Geld drauf? Für Hochzeitssänger auf dem Gogolewski-Boulevard, fürs Kinderschminken, fürs Feuerwerk? Oder für den misslungenen Versuch, Regenwolken mit Chemikalien zu vertreiben? Kein Journalist hat die Kostenaufstellung gesehen, die Pressesprecherin der Stadtregierung schweigt.

Mein INNERER RUSSE beschwichtigt den sparwütigen Deutschen. Ach was, die Pressesprecherin schweigt! Towarisch! In welchem Land wähnst du dich denn? It’s Russia! Und: Krise hin oder her, das Volk braucht Brot und Spiele. Die echten Moskauer haben mit dem Tag nichts zu tun? Vier Millionen kamen aus ihren Betonsilos am Stadtrand angekrochen! Was glaubst du, wie viel Umsatz die Stadt gemacht hat? Ach, ist das Fest immer noch zu teuer? Was sind schon sechs Millionen bei einem Jahresbudget von 21 Milliarden? Und die 250 Millionen Rubel vom Vorjahr, beim alten Rubelkurs wären’s doch knapp 5 Millionen Euro gewesen. Genosse! Hier ist übrigens eine Seite der Stadtregierung, da kannste über den Haushalt nachlesen! Transparenz! E-Government! Nicht alles ist schlecht!

DER INNERE DEUTSCHE mal sich wieder: Nicht alles schlecht, hörst dich schon an wie mein Nazi-Opa, der kein Nazi gewesen sein will! Hier, schau mal her! Deine Spaßmacher haben in der Innenstadt Folterszenen aus dem Zarenreich nachgestellt! Dein Geschichtsbild, oder was?

DER INNERE RUSSE: Freu dich doch, immerhin lassen wir Puschkin-Darsteller auf Stelzen aufmarschieren und keine Stalin-Fans! Und die Frau auf dem Bild, die hat bloß “50 Shades of Grey” gelesen.

Viele Gespräche über Moskau, ja über Russland verlaufen so. Über Moskau sprechen heißt über Russland sprechen. Schließlich kommt in der Hauptstadt alles zusammen: Geld, Macht, Erneuerung, Rückständigkeit, Traditionsbewusstsein und Geschichtsvergessenheit, Korruption und Innovation. Die Erfahrung zeigt: Das letztere Gegensatzpaar ist eigentlich keins.

Moskau, die größte, reichste, modernste, teuerste, superlativste Stadt Russlands. Wer’s in Russland zu etwas bringen will, kommt hierher. Woanders gibt es einfach kein Geld – und das unterscheidet Moskau von Berlin. Aber so enden wie Deutschlands Wohlfühl-Hauptstadt – berauschend wie alkoholfreies Bier – will Moskau ohnehin nicht. Weltstadt will sie sein, ein russisches New York. Dreck und Gewalt, aber auch hübsche Parks, neue Radwege und Hipster aus coworking spaces, die an jeder Ecke Burger mampfen (für umgerechnet sechs Euro fuffzig, wovon leben diese Leute eigentlich?)

Aber kann aus der roten Sowjethauptstadt eine internationale Metropole werden? Dazu müsste Moskau seine Geschichte ungeschehen machen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, meint Maxim Trudoljubow in der liberalen “Wedomosti”. All die Parks und Radwege können nichts daran ändern, dass Moskau mit ihren Ringstraßen und Radialmagistralen eine Festung ist, ja immer eine Festung war. Man kann sie nur belagern oder verteidigen.

Historisch hatten die Verteidiger mal mehr, mal weniger Erfolg. Standen sie auf der Siegerseite, wurden aus ihnen Eroberer. Die äußerste Mauer Moskaus verlief vor 25 Jahren an der innerdeutschen Grenze, heute ist schon knapp westlich von Pskow Schluss. Die in der Festung sind nervös geworden, sie wollen die Armee modernisieren – mal wieder! Alles wie im 17. Jahrhundert, schreibt Trudoljubow. Selektive Modernisierung, der Anschein von Fortschritt. Moskau ist ein Abbild Russlands und Russland ein Abbild Moskaus. Der Kreml baut topmoderne Verteidigungsringe um die Hauptstadt, während der Rest des Landes im zwanzigsten, mancherorts im neunzehnten Jahrhundert feststeckt. Anders scheint es nicht zu gehen.

Aber stehen die Dinge wirklich so schlecht? Vielleicht ist Moskau einfach die Avantgarde der eigentümlich stolpernden, sehr russischen Modernisierung. Vielleicht züchtet diese Stadt einen neuen Menschen heran, der einmal das Kunststück vollbringen wird, das autoritäre Erbe Russlands zu einem modernen Staat umzuarbeiten. Blöd nur, dass niemand so recht weiß, wie viele neue Menschen es gibt. Bei der Feier am Samstag sprach der Bürgermeister Sergej Sobjanin von zwölf Millionen Einwohnern, der russische Premier Dmitri Medwedew – o russische Zwietracht! – von 15.


Danke für die Aufmerksamkeit!

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