RLW #13: Umfrageinstitute / Eisenbahn-Esoterik / Käse-Embargo

Heute ist der 16. August 2015 und das ist Russland letzte Woche, ein (etwas verspäteter) eklektischer Rückblick auf die Vorgänge und Debatten im östlichen Riesenreich.

  • Russische Umfrageinstitute in der Krise
  • Eisenbahn-Esoterik (keine Sorge, nicht bei der DB)
  • From the told-you-so department: Regierung findet Lebensmittelsanktionen doof


Es gibt einen Dmitri Rogosin, den kennen wir alle: Das ist der Vizepremier, der ganz doll schimpft, wenn wieder einmal ein vaterländischer Weltraumapparat auf einen “ungeplanten Orbit” kommt oder eine Rakete beim Start explodiert. Der Mann hat einen Namensvetter, den ich persönlich viel interessanter finde: Dmitri Rogosin, Experte für Umfragemethoden. Der interessantere Rogosin ist international renommierter Soziologe und Mitautor einer ethnographischen Studie (und eines Buches) über die russische Umfrageindustrie, also über die Kollegen von FOM, WZIOM und Lewada. Auf schimpfen gerne die russischen Regierungsgegner, wenn mal wieder eine Bericht kommt, der Wladimir Putin Rekord-Zustimmungswerte bescheinigt. Die Soziologen hätten sich an den Kreml verkauft, heißt es dann.

Politische Voreingenommenheit ist das geringste Problem der russischen Umfrageinstitute, sagt Rogosin in einem Interview. Schlimmer als mögliche Manipulationen sind methodische Schwächen, die selbst die größten Namen der Branche plagen. Die Fragen auf vielen Fragebögen sind so komplex, dass sie Interviewer im Feld zu Manipulation verleiten. Und um die Datenerhebung kümmern sich unqualifizierte und schlecht vorbereitete Mitarbeiter. Deswegen betrage die Abweichung bei Umfragen in Wirklichkeit bis zu 40 Prozent.

“Die Arbeit des Interviewers im Feld gilt nicht als Soziologie, sondern als bloße technische Arbeit, und die kann jeder erledigen … In Umfragezentren reicht es aus, zu fragen, wie all das gemacht wurde, der Fragebogen, die Stichprobe. Dann stellen wir plötzlich fest, niemand versteht, wie das ablief. Niemand will sich damit beschäftigen. Wenn man aufdeckt, wie die Umfrage wirklich ablief, geben viele Forscher einfach auf … Sie wissen, dass sie schlechte Arbeit machen und schweigen dazu.”

Die “Krise der Umfragetechnologien” in Russland hat System, glaubt Rogosin. War davon auch die umstrittene Krim-Umfrage vom März 2014 betroffen? 86 Prozent von fast 50.000 Befragten sagten, die Krim gehöre für sie zu Russland. Wladimir Putin bezog sich auf diese Zahl in seiner “Krim-Rede” zur Aufnahme der Republik in den Staatsverband. Obwohl die Umfrage in nur drei Tagen durchgepeitscht wurde (sehr, sehr kurzfristig für solche Teilnehmerzahlen) glaubt Rogosin nicht an politische Manipulationen:

“Der erste Gedanke war: Sie haben diese 50.000 doch erfunden. Aber uns liegen alle Audioaufnahmen der Interviews vor, auch jener Befragten, die Teilnahme verweigert haben, also mehr als das Achtfache der gültigen Fragebögen … Wir haben festgestellt, dass die Analyse von WCIOM und FOM zutreffend war. Schockiert von dem Ergebnis waren die Intellektuellen. Sie haben nicht erwartet, dass so breite Unterstützung überhaupt möglich ist.”

Was lernen wir daraus? Ich will nicht wieder mit meiner Litanei anfangen, dass wir im Grunde fast nichts über die öffentliche Meinung in Russland wissen. Aber wir wären gut beraten, Umfragewerten nicht zu viel, ehm, Wert beizumessen. Sie können stimmen, aber – gerade in Russland – sie müssen nicht.


Russland ist ein faszinierendes Land. Hier kann der Chef eines großen Staatskonzerns einfach mal völlig offen Verschwörungstheoretiker, eh, geopolitischer Denker sein. Wladimir Jakunin, Chef der Russischen Eisenbahnen, hat einen Text rausgehauen, den jeder lesen sollte, der sich für den Geisteszustand der russischen Führung interessiert.

In diesem unvergleichlichen Zeitdokument – glauben Sie mir, das ist Stoff für Schulbücher im künftigen, nüchtern gewordenen Russland! – geht es natürlich um die Hegemoniebestrebungen der USA, eines “Außenseiter-Staates” im Weltbild von Jakunin. Der Mann, der sich bei Moskau ein Schlösschen mit einer Wohnfläche von mehr als 2.000 Quadratmetern bauen ließ, erzählt uns etwas über die “globale Oligarchie” und das korrupte Welt-Finanzsystem. Hand in Hand mit der kulturellen Globalisierung zerstört es “das Geistesleben, historische Traditionen und nationale Kulturen”. Dumm nur, dass der Sohn und die Enkeltochter des schwerreichen Oligarchenkritikers in London leben, diesem Babylon des Welt-Finanzkapitals. Aber egal.

Vielleicht werden Jakunins Sprösslinge ja verschont, wenn es an die “Chipisierung der Menschheit” geht. (Googeln Sie einmal dieses Wort. Alles klar?) Sie wussten es sicher nicht, aber die Situation in der Welt ist “eschatologisch”. Mit anderen Worten, die Endzeit naht, auf, auf in eine neue Welt. Hoffentlich nicht die eines Eisenbahn-Esoterikers.


Es ist mir fast peinlich, darüber zu schreiben, aber: Die russische Regierung findet die eigenen Lebensmittelsanktionen blöd. Naja, sort of. Wenig Gutes über den Käse-Boykott (so nennen wir’s hier) steht jedenfalls im jüngsten Bericht des regierungseigenen Thinktanks. Das Lebensmittelembargo habe negativen Auswirkungen auf die Wettbewerbssituation, führe zu steigenden Preisen und schlechter Qualität der einheimischen Lebensmittel. Wer, wer hätte das vor einem Jahr nur geahnt?

Es muss hart sein, für diese Regierung zu arbeiten, wenn man den letzten Rest Verstand noch nicht verloren hat. In diesem Sinne: auch diese Woche keine Gute Nachricht aus Russland. Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf. Sie wird kommen.


Danke für die Aufmerksamkeit!

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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin