RLW #51: Tag des Sieges

Heute ist der 9. Mai 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema diesmal: Wann es in Russland wirklich etwas zu feiern gibt. 


Liebe Leserinnen und Leser, ich will heute nicht über die „Nachtwölfe“ schreiben, nicht über „Georgsbändchen“ oder über Marschmusik auf dem Roten Platz. Ich will ein bisschen träumen, von einem Land, wo Gedenken nicht in Ressentiment umschlägt. Von einem Land, das sich seiner Geschichte stellt. Heute heißt das Land „Russische Föderation“, weiß Gott, wie es sich in neunundzwanzig Jahren nennt.

Die Machthaber dieses schönen künftigen Landes haben es kapiert: Ihre besten Freunde sind nicht China und Iran, sondern Europa und die USA. Nowosibirsk, 2045. Die Einwohner der neuen Hauptstadt denken mit Stolz an die Hilfe der Amerikaner im Großen Krieg zurück. Vor hundert Jahren ging er zu Ende. Blumen vor der amerikanischen Botschaft! Russen mit US-Fahnen. Sie wissen: Ohne Lend-Lease Act kein Aluminium für sowjetische Kampfflugzeuge, kein Kerosin, keine Lastwagen, keine Munition, kein Sieg über Hitler. Stattdessen Generalplan Ost und totale Vernichtung.

Dazu kam es nicht, dank der immensen sowjetischen Opfer und der Hilfe der Amerikaner. Aber was vor dem Angriff der Nazis geschah, darüber schämen sich die Russen, wie auch darüber, was nach dem Krieg folgte: Der Hitler-Stalin-Pakt, die Aufteilung Osteuropas, die sowjetische Besatzung. Die Bilder von den deutsch-sowjetischen Militärparaden in Polen kennt heute jedes Schulkind, genau wie Solschenizyns und Schalamows Erzählungen aus dem Gulag. Ja, dass Stalin selbst Kinder in Gulags steckte, ist allgemein bekannt, genau wie die Tatsache, dass er kriegsversehrte Rotarmisten zu zehntausenden in „Internate“ schaffen ließ, wo sie bis zu ihrem Tod, oft jahrzehntelang, dahinvegetierten. Stalins Grab in der Kremlmauer wurde aufgelöst, Lenin liegt beerdigt in seiner Heimatstadt, die wieder Simbirsk heißt.

Die jungen Russen können heute nicht nachvollziehen, wie ihre Eltern und Großeltern das Unrecht der Sowjetzeit rechtfertigen konnten. Russland ist längst NATO-Mitglied. Mit der EU herrscht Freizügigkeit. Schüleraustausch mit Europa wird staatlich gefördert, auch mit der Republik Krim. Sibirien wiederum kann sich vor dem Ansturm deutscher Ökotouristen mit Jack-Wolfskin-Jacken kaum retten. So muss es schon immer gewesen sein.

Natürlich legt die Präsidentin der USA zusammen der russischen Präsidentin einen Kranz nieder – am Monument für die Opfer des Großen Kriegs. Der deutsche Kanzler und der polnische Staatspräsident tun es ihnen gleich. Die einfach Russen trinken einen Wodka auf die Opfer aller Nationen. Im Fernsehen spielt ein Orchester Schostakowitschs siebte Sinfonie. An die pompöse Parade in der alten Hauptstadt Moskau erinnern sich nur noch ein paar Rentner. Der „Tag des Sieges“ ist vergessen, Russland gedenkt am 8. Mai der deutschen Kapitulation, gemeinsam mit dem Rest Europas.

Am Rande der Innenstadt von Nowosibirsk demonstrieren zwei dutzend Neo-Putinisten. Einige halten eine riesige Attrappe des strategischen Atom-Bombers TU–160 hoch, andere verbrennen EU-Fahnen und Portraits der russischen Präsidentin; Passanten werfen ihnen böse Blicke zu. Plötzlich taucht ein Trupp burjatischer Nationalisten auf, sie haben es auf die Putin-Nostalgiker abgesehen. Polizisten buchten die Krawallmacher ein.

Natürlich ist all das nur eine Träumerei, nicht einmal ein Gedankenexperiment: Ich gehe nicht von einer Prämisse aus und spiele sie durch, ich präsentiere einen Wunschzustand. Doch wie gelangt man dahin? Eine neue Geschichtspolitik braucht einen neuen Staat, und ein neuer Staat braucht eine neue Geschichtspolitik. Wer Russland wirklich verändern will, kommt um eine neue politische Deutung der russischen Geschichte nicht herum – der russische Staat kämpft nicht umsonst gegen das, was er „Falsifizierung der russischen Geschichte“ nennt, also alle Versuche, die herrschende Geschichtspolitik des Kreml infrage zu stellen. Russland ist unfehlbar, und wer damit ein Problem hat, der ist ein Faschist.

Nun, was tun? Die ewige russische Frage. Vielleicht sollten wir sie Menschen stellen, die sich in Russland dem Wahnsinn der Kreml-Geschichtspolitik verweigern. Die ihre Kinder davon abschirmen. Die davon überzeugt sind, das Russland keinen anderen Weg gehen muss als den europäischen. Wenn sie einmal das Sagen haben – erst dann hat Russland wirklich gesiegt.


Danke für die Aufmerksamkeit!

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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.