RLW #39: Büdchen-Dämmerung in Moskau

Heute ist der 15. Februar 2016, willkommen bei „Russland letzte Woche“. Das Thema diesmal: die Nacht der langen Schaufeln, oder Moskaus seltsame Wirtschaftsförderung.


Sie gehören zum Moskauer Stadtbild wie die roten Sterne auf den Kreml-Türmen: die Verkaufsreihen, Kiosks und Pavillons an den Metro-Stationen. Dort können die Moskauer auf dem Nachhauseweg Dinge besorgen, für die sich der Umweg zum Supermarkt oder Fachgeschäft nicht lohnt, etwa Schnürsenkel, Batterien oder Strumpfhosen. Ganz zu schweigen von Schokolade, Hotdogs, Gebäck oder Medikamenten. Sie ahnen es, es gibt nichts, was diese kleinen Läden nicht führen. Das ist in einer Riesenstadt wie Moskau natürlich ein Riesengeschäft, obendrein angesichts der russlandtypisch geringen Personalkosten.

Dieses frei wuchernde Business will Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin zivilisieren, für Stadt und Vaterland, schließlich verschandelten die Buden das Moskauer Stadtbild – beim Kampf um Moskaus Schönheit geht der Technokrat Sobjanin allerdings eher stalinistisch vor. In der Nacht auf Dienstag vergangener Woche ließ er einhundert Verkaufspavillons mit Baggern und Traktoren abreißen. Die Aktion nannten russische Medien die „Nacht der langen Schaufeln“ (hier gibt es ein Drohnen-VIDEO von den Abrissarbeiten.) Die Einzelhändler sahen den Abriss spätestens seit Ende Dezember kommen, doch dass Sobjanin seine Drohung in die Tat umsetzt, scheint niemand so recht geglaubt zu haben – bis die Schaufel eines Baustellenbaggers durch die Wand kam, ohne Rücksicht auf Menschen, die sich noch unterm Dach aufhielten (VIDEO).

Doch zu spät, es ist vollbracht. Millionenschäden (in harter Währung) und 1.500 Budenmitarbeiter auf der Straße, mitten in der Wirtschaftskrise. Da halfen auch keine Russlandfahnen und Putin-Portraits, die verzweifelte Mitarbeiter wie Ikonen an Schaufenster klebten. Die Stadt Moskau blieb hart: Alles wilder Bau, errichtet ohne Genehmigung, obendrein auf Grund und Boden, wo aus Sicherheitsgründen nicht gebaut werden darf. Dumm nur, dass die Gerichte das anders sehen. Nur in drei Fällen konnte die Moskauer Stadtregierung nachweisen, dass es sich bei den Verkaufspavillons um illegalen Bau handelt.

Doch Sobjanin interessierte sich weder für die konkreten Gerichtsentscheidungen, noch für die Tatsache, dass die Ansprüche der Stadt in vielen Fällen als verjährt gelten können – wie der Blogger und Anti-Korruptionsaktivist Alexej Nawalny unterstreicht, hat die Stadtregierung die teils mehrstöckigen, massiv gebauten Gewerbegebäude wohl nicht jetzt erst entdeckt. Dennoch: jahrelang, mancherorts jahrzehntelang passiert nichts. Wilder Bau mitten in Moskau? Wohl eher gute alte Korruption.

Toll, dass Sobjanin da was macht, möchte man blauäugig meinen – aber warum auf diesem Weg von zweifelhafter Legalität? Gut, Sobjanin beruft sich auf ein föderales Gesetz von September 2015, das ihm den Abbruch von illegalen Bauten ohne Gerichtsentscheidung erlaubt und schimpft über „Eigentumspapierchen, durch Schwindel erworben“. Aber wieso sollten Sobjanins Abriss-Crews selbst Gebäude mit sowjetischen Baugenehmigungen niederreißen, wie einen Parkpavillon aus tiefster Breschnew-Zeit? Warum bleiben dann andere Bausünden des metro-nahen Einzelhandels stehen? Geht es am Ende vielleicht nur darum, manche Großvermieter von Gewerbeflächen abzustrafen und andere zu fördern? Ach, wär’ das eine Überraschung!

Diese merkwürdige Büdchenapokalypse war wohl das meistdiskutierte Ereignis der vergangenen Woche. Die Reaktionen reichten vom Appell der liberalen Oppositionspartei „Jabloko“ an Putin, Sobjanin abzusetzen, über Sobjanin-Solidaritätsbekundungen von nominell regierungskritischen Promis wie Xenia Sobtschak bis hin zu metaphysisch anmutenden Spekulationen über den Niedergang von Recht und Gesetz in Russland nach der Krim-Besatzung – wer eine fremde Halbinsel annektiert, lässt auch kein Büdchen stehen. Und die Russen klatschen dazu – angeblich.

Nun, was sagt uns der Fall über das Land? Stellt die Krim-Annexion nun auch den Markt der Moskauer Gewerbeimmobilien auf den Kopf? Kommt jetzt das Ende des Privateigentums in Russland? Ach, liebe Leserinnen und Leser. Sie wissen es doch bereits: In Russland existiert alles unter Vorbehalt, und nicht erst „seit Putin“ oder „seit der Krim“. Obendrein, wenn es um’s Geschäft geht. Und in Moskau geht es selbst bei einem Büdchen an der Metrostation um viel, viel Geld. Privateigentum wird nicht universell geachtet? Dass ich nicht lache. Gerichtsentscheidungen interessieren niemanden? Big news. Sobjanins Nacht der langen Schaufeln bedeutet leider nur eins: business as usual.


Danke für die Aufmerksamkeit!

Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.

Russland letzte Woche gibt es als Blog und Newsletter.

Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin

RLW erscheint in Kooperation mit n-ost – Netzwerk für Osteuropaberichterstattung.