RLW #7: Kisseljow wird schwulenfreundlich / Russen haben keine Angst vor dem IS / Putin ist kein Pinochet

Heute ist der 5. Juli 2015 und das ist Russland, letzte Woche:

  • Kisseljow wird schwulenfreundlich
  • Keine Angst vor dem IS
  • Putin ist kein Pinochet

Kremls Chefpropagandist Dmitri Kisseljow geriet jüngst in die Schlagzeilen der kritischen Onlinemedien. Was hat der Mann wieder angestellt? Den Amerikanern mit dem Abwurf eines Trupps tödlicher russischer Unteroffiziere, eh, einer Neutronenbombe gedroht? Putin mit Stalin verglichen, natürlich in a good way?

Nein, Kisseljow erlaubte sich eine Aussage, deren Bedeutung sich der russischen Öffentlichkeit noch nicht erschlossen hat. Inmitten der HassDerby der russischen Medien gegen das SCOTUS-Urteil zur Ehe-Öffnung forderte Kisseljow… Na was? Scharia-Recht für Homosexuelle? Zwangseinweisung von Lesben? Nein, zivile Partnerschaften.

Unglaublich, aber wahr. Die Duma fordert einen Verbot der Regenbogenfahne, Kisseljow will so eine Art gleichgeschlechtliche Ehe. Hier kann man nachschauen, wie er sich dafür ausspricht, das “Thema LGBT” hin und wieder zu diskutieren. Ja, er sagt tatsächlich “LGBT”. Die LGBT-Community sei eine “Tatsache”. Es gehe darum, erwachsenen Menschen das Leben zu erleichtern, sofern sie sich entschlossen haben, sich umeinander zu kümmern. “Liebe vollbringt Wunder, was soll man dagegen haben?” fragt Kisseljow.

In der Tat, was soll man dagegen haben? Kisseljow müsste es eigentlich wissen. Es ist keine zwei Jahre her, da hat er noch gefordert, Schwulen alles mögliche zu verbieten und “ihre Herzen zu verbrennen.” Woher also der plötzliche Windwechsel? Will der Kreml plötzlich auf die LGBT-Community zugehen? Dafür könnte es weitere Anzeichen geben, so hat sich kürzlich der Senator Konstantin Dobrynin gegen Politiker ausgesprochen, die “altertümliches Gay-Bashing” betreiben. Diskriminierende Gesetze dürfe es nicht geben, man müsse einen Ausgleich finden zwischen Mehrheit und Minderheit.

Der Polit-Kommentator Stanislaw Belkowski will jedenfalls in Kisseljows Statement keine Sensation sehen. Kisseljow sei es letztlich egal, was er vor der Kamera sagt – schließlich hat er sich zu einem ”Teil der Ukraine” erklärt, als er drei Jahre lang Nachrichtenchef bei ICTV, dem Fernsehsender des Oligarchen Pintschuk war. Woher kam also der … Ratschlag zur überraschend schwulenfreundlichen Forderung, die von russischen Politikern unkommentiert blieb? Belkowskis Erklärung hört sich recht esoterisch an: Im Kreml und an der Führungsspitze der Staatskonzerne gibt es eine Menge closeted Schwule. Naja.

Also, was soll das alles? Mein Tipp: Der Kreml könnte eine Pinkwashing-Aktion vorbereiten. LGBT-Ehegleichstellung wird als “Stärkung der traditionellen Werte” umintepretiert, die unerwartete gute Publicity einer möglichen LGBT-“Liberalisierung” lenkt vom Ukrainekonflikt ab und “verwestlicht” Putin wieder. Klingt unwahrscheinlich? Warten wir’s ab.


Russische Touristen zählen bei den Europäern nicht gerade zu den beliebtesten Strandnachbarn. In den Tourismusländern ist der Blick auf Russen vorteilhafter. Wenn es irgendwo knallt, hauen vorsichtige Westler sofort ab. Die Russen wiederum lassen sich den Urlaub nicht versauen. So auch in Tunesien: Nach dem Anschlag am 26. Juni flohen tausende europäische Touristen aus Angst vor dem IS. Die Russen blieben.

Nur einzelne russische Touristen haben Tunesien vorzeitig verlassen, heißt es aus dem Verband der russischen Reiseveranstalter. Das mag neben dem russischen Stoizismus einen gewichtigen Grund haben: Das russische Außenministerium hat wie das deutsche Auswärtige Amt keine Reisewarnung für Tunesien ausgesprochen, anders als das niederländische Außenministerium. Für die Russen bedeutet das: Bei vorzeitiger Abreise gibt es kein Geld zurück.

Moment, kann es sein, dass Russen sich rational verhalten? So richtig im Sinne des westlichen common sense? Russland ist ja doch Europa, Freunde.


Seit den ersten Tagen seiner Präsidentschaft vergleichen seine Anhänger und Kritiker Wladimir Putin mit Augusto Pinochet. Wie der chilenische Gewaltherrscher solle Putin wirtschaftsliberale Reformen mit diktatorischen Mitteln durchsetzen und Russland wieder groß machen – das forderte vor fünfzehn Jahren kein nationalistischer Duma-Clown, sondern Peter Aven, Chef der damals größten russischen Privatbank.

Die Soziologin und Lateinamerika-Expertin Tatjana Woroschejkina rüttelt in einem lesenswerten Interview an dem traditionellen Pinochet-Vergleich. Statt eines Pinochet habe Russland einen Trujillo bekommen. Wie in der Domenikanischen Republik zur Zeit der Diktatur falle in Russland politische Macht und Eigentum direkt zusammen:

“Russland ist natürlich viel größer, aber auch bei uns ist das ganze Land Eigentum der föderalen, regionalen und kommunalen Staatsmacht. Auf föderalem Niveau ist das die Kontrolle über die wichtigsten Bodenschätze. In den Regionen oder einzelnen Städten wiederum ist der Gouverneur oder Bürgermeister oft der größte Eigentümer … Was bei uns “Staat” genannt wird, kann ich schwerlich einen Staat nennen. Es gibt weder gesichtslose Institutionen noch klare Regeln … Natürlich kann man sagen, dass die Russischen Eisenbahnen oder Rosneft staatliche Konzerne sind, aber in Wirklichkeit gehören sie ihrem Management, als handelte es sich um Privateigentum.”

Das demokratische Projekt in Russland ist gescheitert, weil die Weichenstellung in den frühen 1990er Jahren falsch war, meint Woroschejkina. Das demokratische Projekt sei auf ein marktliberales reduziert worden: Erst Privatisierungen und Marktwirtschaft, dann die Herausbildung der Mittelschicht, dann Demokratie. So hat’s allerdings nicht funktioniert.

“In den 1990ern wurden keine echten demokratischen Institutionen geschaffen. Die Leidtragenden der Wirtschaftskrise und der liberalen Reformen haben keine demokratischen Kanäle bekommen, um ihre Interessen zu vertreten, anders als etwa in Brasilien nach der Diktatur … Aus der Sicht der damaligen Machthaber war Politik lediglich eine Sphäre der Verwaltung, nicht der Partizipation. Das ist der Hauptgrund, weshalb die russische Gesellschaft demokratische Institutionen zurückwies: Sie waren nichts wert und wurden als Instrument im Machtkampf unterschiedlicher Oligarchengruppen diskreditiert.”

Wer sich laut darüber wundert, warum die Russen nicht endlich Putin stürzen und “Demokratie” einführen… Vielleicht gibt dieses Interview ein paar Antworten.


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Pavel Lokshin