RLW #6: Wer zum Teufel war eigentlich Jewgeni Primakow?

Heute ist der 29. Juni 2015, und das ist Russland, letzte Woche, mit einer leicht verspäteten surprise Sonderausgabe über Jewgeni Primakow.


Heute wird er zu Grabe getragen, der letzte Tausendsassa der alten sowjetischen Schule: Jewgeni Primakow war “Prawda”-Korrespondent in Kairo, führender Nahostexperte der Breschnew-Zeit, später Gorbatschow-Vertrauter. Während alte Gorbatschow-Kumpels unter Jelzin rechts und links in die Irrelevanz abdrifteten, blieb Primakow im Sattel: erst führte er die aus der KGB ausgegliederte Auslandsaufklärung, dann fuhr er als Außenminister einen ungewöhnlich harten Kurs in den Beziehungen mit dem Westen.

Nach der Krise von 1998 erreichte Primakow die Spitze seiner Karriere. Jelzin setzte seinen zähen Außenminister als Premier ein. Zuvor feuerte er seinen erst 36-jährigen Vorgänger, den Jungreformer Sergej Kirienko. Das Milchgesicht hatte die Krise auf dem Gewissen, ist doch klar. Primakow wurde beliebter Ministerpräsident, der aus der Sicht der gewöhnlichen Russen für die verhältnismäßig schnelle Erholung der Wirtschaft verantwortlich war.

Lustigerweise hatte Primakow Erfolg in einem Amt, zu dem er praktisch gezwungen werden musste. Aus der Sicht des Jelzin-Clans war er idealer Kompromisskandidat in der Auseinandersetzung mit den damals mächtigen Duma-Kommunisten. Sie hätten den ersten russischen Präsidenten am Liebsten aus dem Amt gejagt, mindestens aber die Auflösung der Duma und der Regierung bewirkt – das wäre eingetreten, hätte die Duma zum dritten mal Jelzins Vorzugskandidaten Viktor Tschernomyrdin abgelehnt.

Somit hat der wegen seiner Kandidatur wenig enthusiastische Primakow dem Jelzin-Zirkel vorzeitige Parlamentswahlen und einen totalen Sieg der Kommunisten erspart – die Zustimmungswerte für Jelzin und seine Mannschaft waren auf dem Tiefpunkt. Zar Boris wurde trotzdem nicht warm mit Primakow. Er fürchtete seine Kandidatur bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl und entließ den altgedienten Sowjet-Apparatschik wegen “fehlender Dynamik bei der Umsetzung der Reformen” – diese Entscheidung lehnten in Umfragen 80 Prozent der Russen ab. Primakows Nachfolger wurde der loyale Innenminister Sergej Stepaschin. Auf Stepaschin folgte ein Mann, der bis heute Russlands Politik bestimmt: Wladimir Putin.

Nach seiner Entlassung versuchte Primakow sich in Duma-Politik, hatte aber keine Chance gegen die Jelzin-freundlichen Oligarchen und ihre handzahmen Fernsehsender, die eine Kampagne gegen ihn vom Zaun brachen. Primakows politische Karriere war vorbei. Bis 2011 führte er die russische Industrie- und Handelskammer und wurde als elder statesman herumgereicht.

Nach Primakows Tod stellen sich manche Russen die was-wäre-wenn-Frage. Wie sähe Russland heute aus, hätte Jelzin damals Primakow und nicht Putin den Vorzug gegeben? Ein welterfahrener Mann, der im alten System eine glänzende Karriere machte, hätte Putins Protzerei nicht nötig gehabt – also weder Paläste im Inland und noch militärische Abenteuer im Ausland. Jedenfalls sei er zur Erhaltung seiner Macht nicht zu allem bereit gewesen.

Der Bloomberg-Kolumnist Leonid Bershidsky hält nichts von solcher Idealisierung Primakows. Unter seiner Führung hätte Russland sogar viel früher einen antiwestlichen Kurs eingeschlagen, meint er. Als Chef der Auslandsaufklärung habe er Jelzin mit geheimen Analysen zur bevorstehenden NATO-Expansion bombardiert. Primakow war gut Freund mit Saddam Hussein und Hafez Al-Assad, hat Slobodan Milosevic unterstützt und gegen die drohende Unabhängigkeit Kosovos protestiert.

Unvergessen ist “Primakows Schleife” – als am 23. März 1999 die NATO-Bombardierung Belgrads begann, war Primakow gerade unterwegs nach Washington. Nachdem ihn die Nachricht erreichte, ließ er kurzerhand die Regierungsmaschine umdrehen und kehrte nach Moskau zurück. Einigen gilt “Primakows Schleife” als Ausgangspunkt von Putins Außenpolitik.

Andere setzen ihn sogar viel früher an: Primakows Auslandsaufklärung sei der“Startpunkt der Sowjetrevanche” gewesen, die sich durch die russischen 1990er gezogen habe, meint Oleg Kaschin. Putin ist nicht nur in seiner antiwestlichen Rhetorik bei Primakow zur Schule gegangen. Auch innenpolitisch ließ sich er sich von Primakow inspirieren: Bekanntlich sprach sich Primakow als Premier im März 1999 dafür aus, Plätze in Gefängnissen freizumachen – eine kaum verhüllte Drohung an Oligarchen. Jahre später sagte Boris Beresowski, Primakow hätte ihn beinahe hinter Gittern gebracht. Was unter Primakow eine Drohung blieb, wurde unter Putin Realität.

Wäre Primakow also der bessere Putin gewesen? Kaschin ist sich da gar nicht so sicher:

“In Putins Russland gibt es nichts, wovon Primakow und seine Mitstreiter vor 15-16 Jahren nicht geträumt hätten. Gibt es irgendein anderes Kriterium, das uns darüber urteilen lässt, wer gewonnen und wer verloren hat? Das Putin-System nimmt nicht von einem Feind Abschied, sondern von einem Lehrer und Vordenker, der um den Preis seiner politischen Karriere Russland zu dem Land machte, das es heute ist.”

Als Primakows politisches Testament wird eine Rede gehandelt, die er Anfang des Jahres hielt. Darin fordert er die Diversifizierung der russischen Wirtschaft und “echte Föderalisierung”, d.h. gerechtere Verteilung des Steueraufkommens zwischen Moskau und den Regionen. Die echte Gefahr für Russland sei übermäßige Zentralisierung, nicht eine “farbige Revolution”. Mit dem Westen müsse man trotz der Sanktionen um gute Beziehungen bemüht sein. Also war Primakow doch nicht superglücklich mit dem Putin-System?

Vielleicht haben seine westlichen Zeitgenossen doch recht: Primakow war Pragmatiker, kein Ideologe. Als sich die russische Politik zu pro-westlich gebärdete, durfte er korrigierend eingreifen. Als sie in ihr Gegenteil schlug, hatte er dazu keine Chance mehr.


Danke für die Aufmerksamkeit!

Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.

Russland, letzte Woche als Newsletter abonnieren? Bittschön, hier.

Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin