RLW #4: Sonderausgabe zum Nationalfeiertag

In dieser Russland-letzte-Woche-Russland-Sonderausgabe vom 15. Juni 2015

  • Surprise think piece: Unabhängig von uns selbst
  • Die Gute Nachricht aus Moskau: Fürst Wladimir zieht um, Zar Wladimir allerdings nicht.
  • Was ist Russland? Unsere endgültige, erschöpfende Antwort wird Sie überraschen!


Am Freitag feierte Moskau den “Tag Russlands” – dieser seltsame Nationalfeiertag steht dem Land gut zu Gesicht. Vor fünfundzwanzig Jahren erklärte die “Russländische Föderative Sozialistische Republik” ihre Unabhängigkeit. Moskau gegen Moskau also. Jelzin und seine Anhänger folgten den baltischen Ländern, Georgien und Aserbaidschan gegen Gorbatschow – aber nicht gegen die Sowjetunion als Staat. Ihr Zerfall war damals unvorstellbar.

Der Tag stellte sich allerdings als ein Zwischenschritt auf dem Weg zur angeblich “größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts” heraus, um Wladimir Putin zu zitieren. Was gibt es also zu feiern? Das fragen sich die Russen bis heute. Für radikale Sowjetnostalgiker wie Eduard Limonow ist es “ein Tag der Schande und des Unglücks”. So wie er denken viele. Der ehemalige Kreml-Spindoctor Stanislaw Belkowski outet sich als großer Optimist, wenn er uns den endgültigen Niedergang des russischen Imperiums und die Loslösung vom Nordkaukasus verspricht:

“Russland wird endlich Europa sein. Das ist nur eine Frage der Zeit, und keiner langen. Zweifelt nicht daran.”

Wie soll das unblutig über die Bühne gehen? Werden die unkaukasischen Rest-Russen dadurch “europäischer”? Wir schielen auf die Ukraine und zweifeln doch.

Die meisten Russen freuen sich jedenfalls weniger auf Europa als auf ein langes Wochenende. Die Neuigkeit dieses Jahr: Inzwischen akzeptieren 42 Prozent der Russen den “Tag Russlands” als Feiertag, gegenüber 29 Prozent im vergangenen Jahr. Die so genannte Patriotismuswelle nach der Krim-Annexion macht sich bemerkbar. Aber welchem Land gilt der Patriotismus? Selbst am “Tag der nationalen Einheit” im November, einem weiteren unverständlichen postsowjetischen Feiertag, müssen Menschen aus ganz Russland dazu geprügelt werden, in Moskau aufzumarschieren. Und dann zieht die Kolonne vorbei an einem teueren Restaurant namens “Ein Land, das es nicht gibt.”

Hat es das Land denn gegeben? Viele erinnern sich noch an die 1990er. An Monate oder sogar Jahre ohne Gehalt, an die Hyperinflation und an halblegale Regionalwährungen, an die Kartoffeln von der Datscha als Hauptnahrungsmittel, an die riesige Tiefkühltruhe im Flur – die sicherste Bank der Jelzin-Zeit. Ah, Suppenfleisch, rein damit, wer weiß, wie viel es morgen kostet. Im Zentrum Moskaus zelten streikende Bergleute, in der Provinz versperren Demonstranten Fernstraßen, die ersten Russen werden aus Tschetschenien und Aserbaidschan vertrieben. Das Fernsehen wird nicht aus dem Kreml gesteuert, dafür gibt es nichts zu beißen. Bis in die frühen 2000er haben die Russen im Schnitt fast ihr gesamtes Einkommen für Lebensmittel ausgegeben. Das ist nicht mal fünfzehn Jahre her.

Vielleicht nehmen die Älteren den “Tag Russlands” an, weil sie diesen Wahnsinn überlebt haben, weil in den besten Jahren von W. Putin und WTI/Brent das Leben für viele Menschen in Russland wieder lebenswert wurde, vielleicht nur vorübergehend. Aber diesen Staat lieben? Wie der lebende Ozean aus Stanisław Lems “Solaris” simuliert er alles bloß – Demokratie, Innovation, Stadtentwicklung, Gesundheitssystem, Raumfahrtindustrie, ja selbst die eigene Titularnation. Mysteriöse Russländer sollen das Land bewohnen. Weiß irgendjemand mehr über sie?

Für mich ist der “Tag Russlands” höchstens eine Erinnerung an eine Zeit, die ich zum Glück bloß als Kind miterlebt habe. Eigentlich wäre kein Feiertag, sondern ein Gedenktag geboten, schließlich haben sich in den Jahren der schockartigen Transformation Millionen Menschen totgesoffen… Aber wir sind schließlich in Russland. Nur der Sieger wird gedacht, und all die siegreichen, nun handzahmen Oligarchen und Jelzin-Putin-Bürokraten sind schließlich noch am Leben. Diesem sich selbst reproduzierenden Hofstaat gehört Russland, meint der Publizist Oleg Kaschin.

“Dieser Staat ist eine Tatsache”, schreibt er, “aber er gibt einem Menschen keinen Grund, ihn für den eigenen zu halten.”

Weiß-blau-rote Papierfähnchen und Volksfeste mit Schlagerstars können die Grundfrage des heutigen Russlands nicht aus dem Weg räumen: Wozu gibt es dieses Land? Um die Weltrevolution zu exportieren? Oder Kohlenwasserstoffe? Wo fängt es an, wo hört es auf? Gehört der Nordkaukasus dazu? Was ist mit Sibirien? Wenn Russland untergeht, wird hierzulande niemand traurig sein, meint Kaschin.

Russland ist fragil, als Staat und selbst als Kultur. Die “russische Welt” ist eine künstliche Nebelwand, die der Taktiker Putin um seine Erblande hochzieht, um an der Macht zu bleiben. Die Russland-Frage wird externalisiert, verdrängt, als stünde sie in im Land selbst nicht zur Debatte. Für eine Weile mag es klappen, auf Dauer nicht. Der angebliche “Nationalismus” der Russen ist Kreml-PR.

In Wahrheit herrscht selbst über Nationalsymbole keine Einigkeit. Der Nazi-Kollaborateur General Wlassow kämpfte unter der russischen Trikolore gegen die Rote Armee. Folgendes sagte mir kürzlich ein ehemaliger Sowjetoffizier, der in den 1990ern wegen der Trikolore die Armee verließ:

“Stell mir eine rote Fahne auf, und ich krieche zu ihr auf allen Vieren.”

Die rote Fahne kehrt wohl nicht wieder. Die Anzughose des braven Sowjetpatrioten bleibt sauber. Und wenn nicht: Wir feiern schließlich Jahr für Jahr unsere Unabhängigkeit von uns selbst. Worüber sollen wir uns schon wundern?


Die Gute Nachricht aus Moskau

Eine 300 Tonnen schwere Figur des Kiewer Fürsten Wladimir wird nun offenbar doch nicht auf den Sperlingsbergen aufgestellt. Ungefähr so hätte das Ganze ausgesehen. Wladimir, der “Täufer der Rus” hätte den Blick auf das Hauptgebäude der Moskauer Universität versperrt. Es hat Proteste und sogar tätliche Auseinandersetzungen gegeben, zwischen der Pro-Wladimir- und Contra-Wahnsinn-Fraktion. Die “Nachtwölfe” haben natürlich mitgemacht, aber umsonst, umsonst. Natürlich feiert der Kerl nur einmal seinen 1000. Geburtstag, aber inzwischen dürfte selbst im Kreml angekommen sein, dass er mit Moskau eigentlich nichts zu tun hatte. Als die Stadt gegründet wurde, war der gute Mann schon seit mehr als hundert Jahren tot. Moskau, null Punkte, Kiewer Rus, 100 Punkte.

Gut so. Ein Wladimir reicht, drüben in Kreml, und den macht uns Kiew zum Glück nicht streitig. Da brauchen wir keinen 300-Tonnen-Wladimir, mitten auf der hübschen Aussichtsplattform. Besoffene Hochzeitsgesellschaften sind da oben schlimm genug. Und was den Täufer anbetrifft: Ich bin mir nicht sicher, ob dieser ”neue Konstantin” im 11 Jahrhundert überhaupt das Richtige getan hat. Byzanz statt Rom? Nicht so schlau im Nachhinein. Stellt ihn woanders auf, liebe orthodoxe Freunde, vielleicht ja einfach auf dem Lenin-Mausoleum?


Was ist Russland?

Russland, das sind zwei Säufer in der Metro, die plötzlich einen Bildband über Renaissance-Malerei studieren. Fake oder nicht, Sie verstehen, was ich meine. Credo quia absurdum.


Danke für die Aufmerksamkeit!

Ich bitte um Tipps, Feedback und Anregungen aller Art bei Facebook, Twitter und unter pavel.lokshin@gmail.com.

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Bis nächste Woche!
Pavel Lokshin